Poschiavo, Graubünden, Schweiz
Poschiavo ist ein rund 3.500 EinwohnerInnen zählendes, italienischsprachiges Dorf, das in einem Südtal im Kanton Graubünden liegt. Charakteristisch ist die durch die große Höhendifferenz geprägte, vielfältige Landschaft, die vom Berninapass im Norden auf einer Seehöhe von 2.382 m bis zum 2.000 m tiefer gelegenen Tal reicht. Mit der Errichtung der großen Wasserkraftanlage (1904) und dem Bau der Berninabahn (ab 1906) hat sich das Tal verändert – die Landschaft wie auch die Wirtschaft sind stark von diesen beiden großen Wirtschaftsmotoren geprägt.
In den 1990er-Jahren begann hier eine bewusste Neuorientierung – die Bevölkerung entwickelte ein neues starkes Bewusstsein für die eigenen Grenzen und Chancen. Gerade das Wissen um die rein ökonomischen Wachstumsgrenzen hat sicher dazu beigetragen, dass man sich auf andere Werte besonnen hat und innovative Ideen geboren sowie Projekte umgesetzt wurden. Es entstand die Überzeugung, dass die Zukunft Poschiavos auf den Prinzipien der Nachhaltigkeit aufbauen und dass alles daran gesetzt werden muss, dafür die idealen Voraussetzungen zu schaffen bzw. zu bewahren.
Die Bevölkerung von Poschiavo ist sich ihrer Grenzen (niedrige Bevölkerungszahl und relativ große Distanz zu den Zentren), aber auch der Vorzüge der geographischen Lage des Dorfes und der Möglichkeiten, die die Nähe zu Norditalien mit sich bringt, bewusst. Die Menschen haben erkannt, dass das Tal nur eine Zukunft hat, wenn es sich in allen Bereichen nachhaltig entwickelt. Zudem hat die überstandene Hochwasserkatastrophe den Willen zur Erneuerung und die Solidarität gestärkt. Auch die Identifikation der BürgerInnen mit dem eigenen Dorf ist sehr groß.
Der Erneuerungsprozess ist in allen Bereichen spürbar und hat auch von außen bereits Anerkennung erhalten: 2009 erhielt die Gemeinde den Binding Waldpreis und seit 2008 zählen die Albula- und Berninalinie der Rhätischen Bahn zum UNESCO-Welterbe. Die berühmte Berninabahn – vor 100 Jahren Symbol für wirtschaftlichen Aufschwung und Moderne – steht jetzt aufgrund ihrer perfekten Einbettung in die Landschaft, ihres grenzüberschreitenden Charakters und ihrer Umweltfreundlichkeit für die Werte der heutigen Zeit. Auch im Bereich des Tourismus wird verstärkt auf den Erhalt und die Aufwertung bestehender Strukturen geachtet und auf Ursprünglichkeit und Natürlichkeit gesetzt. Auf geistlicher Ebene ist auf Initiative der in Poschiavo wirkenden Ordensschwestern im Rahmen der Renovierungsarbeiten im alten Kloster ein Zentrum für Spiritualität, Ökumene und Kultur entstanden.
Poschiavo leistet seit Jahren geradezu pionierhafte Arbeit in den Bereichen Biolandbau, biologische Produktion und Diversifikation. Heute sind über 80 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe in der Gemeinde anerkannte Bio-Betriebe. Dabei wird auch besonderer Wert auf die Herstellung von Qualitäts- und Bioprodukten sowie auf Sortimentausweitung und Direktvermarktung gelegt. Führende Kräfte in diesem Bereich sind die Heilkräuter-Genossenschaft Coperme und die Käserei San Carlo.
Die Möglichkeiten, erneuerbare Energiequellen zu nutzen, wurden intensiv erforscht, erprobt und umgesetzt – Holzenergie, Trinkwasserturbinen, Solarenergie und Wärmepumpenheizungen sind im Einsatz. Es ist aber auch ein Erweiterungsprojekt für den Bau eines 1.000-Megawatt-Pumpspeicherkraftwerks entstanden, das in enger Zusammenarbeit mit Umweltorganisationen verwirklicht wird.
Auch in Zukunft werden immer wieder Veränderungen, Anpassungen und Neuorientierungen nötig sein – dieser Tatsache sind sich die Menschen in Poschiavo nicht nur bewusst, sondern ein Blick auf die vergangenen 100 Jahre gibt ihnen die Gewissheit, dass sie die Herausforderungen gemeinsam mit Tatkraft und Unternehmensgeist bewältigen werden.
Evaluiert: 2012