Lipová, Ústecký kraj, Tschechische Republik
Die Gemeinde Lipová liegt im nördlichsten Teil der Tschechischen Republik in der Region Ústecký kraj und ist Teil des so genannten „Schluckenauer Zipfels“. Die dort beheimateten Gemeinden arbeiten seit rund 15 Jahren eng zusammen und betreiben Lobbying, auch in Prag, um auf die komplexe Situation dieser Grenz- und Randregion hinzuweisen: Der Fachkräftemangel ist hoch, die Löhne sind vergleichsweise niedrig, es fehlt an einer adäquaten Gesundheitsversorgung und an vielem mehr. Gleichzeitig ist Lipová auch im Verbund mit anderen Gemeinden in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Rahmen der Euregio Neiße und der Euregio Elbe aktiv und arbeitet auch direkt mit mehreren sächsischen Gemeinden zusammen. Ausdruck finden diese Initiativen beispielweise in grenzüberschreitenden bürgernahen Veranstaltungen wie dem Schlittschuhwettbewerb, Feriencamps, dem gemeinsamen Marionettentheater, Kombi-Tickets für Museen beiderseits der Grenzen und einigem mehr.
1945 wurden zwei Drittel der über 3.000 EinwohnerInnen aus Lipová, dem damaligen Hainspach, ausgewiesen und zahlreiche TschechInnen zogen aus dem Landesinneren dorthin. Es gab daher keine gewachsenen sozialen Verflechtungen und auch keine gemeinsame dörfliche Vergangenheit. Erst nach der politischen Wende wurde das soziale Zusammenleben ab den 2000er-Jahren durch eine nachwachsende Generation neu belebt. Dieser gelang es auch, über zahlreiche soziale Initiativen, Feste, neue Vereine und Arbeitsgruppen eine neue Identität zu schaffen und ein neues Selbstverständnis zu etablieren. Niederschlag findet dies nicht nur in einer kalligrafisch und künstlerisch aufwendig gestalteten Chronik, sondern auch über ein neues „corporated design“ und unzählige Aktivitäten in Sozialen Netzwerken. Auch viele nach 1945 ausgewiesenen BewohnerInnen bzw. deren Nachkommen haben sich für ihre „alte Heimat“ engagiert und sind Teil dieses neuen Aufbruchs geworden. Bedeutsam für den Entwicklungsprozess sind schließlich auch Kirche und Caritas, die lokal und auch grenzüberschreitend wichtige Impulse setzen.
Immerhin ist es durch die neuen Initiativen gelungen, den Bevölkerungsrückgang zu stoppen, es gibt erste RückkehrerInnen. Viele ziehen es vor, zwar in Sachsen zu arbeiten, aber wieder in Lipová zu leben. Wichtigste Arbeitgeber vor Ort sind soziale Dienstleister wie Pflege- und Seniorenheime, Kinderheime oder sonstige Betreuungseinrichtungen, deren Dichte auffallend hoch ist. Das Engagement im Bereich Inklusion ist sehr groß, insbesondere die Kinder aus dem Heim werden gezielt in die Projekte des Dorfes eingebunden.
Die Grundversorgung der Gemeinde ist gut. Die Qualität der Internetverbindung liegt über dem Durchschnitt und im Gemeindeamt besteht eine temporär besetzte Arztpraxis, die durch eine mobile Apotheke ergänzt wird. 2018 wurde ein bereits in den 1960er-Jahren bestehendes Freiluftkino reaktiviert und das Dorf verfügt bereits jetzt über eine angemessene Sportinfrastuktur, deren Ausweitung jedoch schon in konkreter Planung ist.
Beim Kulturerbe haben die Zivilgesellschaft und die Gemeinde einerseits ihr Augenmerk auf die Renovierung von mehr als 80 kleinen und größeren Denkmälern wie Wegkreuzen, Kapellen und dergleichen mehr gesetzt und damit eine vorbildliche Inwertsetzung erzielt. Andererseits setzt man sich auch bewusst mit der nach wie vor als schwierig empfundenen Geschichte der Region und ihrer Wirkung bis ins Lipová der Gegenwart auseinander.
In Kooperation mit ArchitekturstudentInnen der Universität Prag wurde ein Projekt zur Revitalisierung des Dorfkernes realisiert. Herausragend ist dabei die Renovierung des „Umgebindehauses Nr. 424“, das zu einem Gemeinschaftszentrum in der Ortsmitte umfunktioniert wurde. Auch die Ortskirche konnte durch eine kluge Kooperation mit der Gemeinde instand gesetzt werden.
Die Gemeinde besitzt zahlreiche alte Alleen, fünf Teiche mit einer Gesamtfläche von 17 Hektar, Wälder und zahlreiche Biotope. Viele einheimische, aber bereits ausgestorbene Tiere und Pflanzen kehren zurück und beleben einen sehr intakten Naturraum, wozu auch der gezielte Ausbau von „Biozentren“ und „Biokorridoren“ beigetragen hat. Auch die lokale Imkerei mit über 120 Bienenstöcken wird unterstützt. Die Vielfalt des Naturraums wurde ansprechend in Wert gesetzt. Diese offensichtliche Sensibilität für die Natur wurde nicht zuletzt durch mehrere Hochwasser verstärkt, weshalb Hochwasserschutz und die Naturraumentwicklung in Lipová als einander bedingende und miteinander verzahnte Aufgaben begriffen werden. In diesem Sinne wurden Flussauen renaturiert sowie alte Teiche als mögliche Wasserspeicher und gleichzeitig als Biotope reaktiviert. In der Erhaltung und Gestaltung des Naturraumes und der natürlichen Umgebung wird nicht zuletzt auch großes Potenzial für sanften Erholungstourismus erkannt.
Es ist in Lipová gelungen, auf Basis einer sehr guten Stärken-Schwächen-Analyse sowie unter kluger Einbindung der Bürger-Innen die dominierende Perspektivenlosigkeit durch den aktiven Aufbau einer starken Gemeinschaft in eine Stimmung des Aufbruchs umzuwandeln. Strategisch wesentlich erscheinen dabei die konstruktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, das überdurchschnittlich ausgeprägte Bewusstsein für den Naturraum und die grenzüberschreitende Ausrichtung der dörflichen Entwicklung, die auf Kooperationen fußt und neue Perspektiven eröffnet hat.
Evaluiert: 2020