Lichtensteig, Schweiz
Die Gemeinde Lichtensteig liegt im Thurtal, einem Tal mit deutlich artikuliertem Gelände: Die Thurlandschaft gehört dem Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler der Schweiz an. Die Gemeindegeschichte kann bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Die historische Altstadt ist denkmalgeschützt und wurde vom Europarat für vorbildliche Ortsbildpflege ausgezeichnet. Zahlreiche Gebäude datieren bis ins 15. Jahrhundert zurück. Den Höhepunkt der Bevölkerungsentwicklung bildete 1990 mit 2.046 Menschen, gefolgt von einem Bevölkerungstief 2008 mit 1.842 Einwohnenden.
Lichtensteig hat sich nach einer starken Zäsur auf Grund der Abwanderung tragender Unternehmen (Textilindustrie, Bank) neu finden müssen. Eine erste Neustrukturierung auf Grundlage eines systematischen Planungskonzeptes hat zunächst nicht den erwünschten Erfolg erzielt, weshalb die neu gewählte Gemeindeverwaltung eine andere, projektbezogene Arbeitsweise aufgenommen hat, die in eine – im Zuge eines Beteiligungsprozesses erarbeitete – strukturierte Strategie (Mini.Stadt) eingebunden ist und deren Umsetzung bereits zahlreiche Erfolge gezeitigt hat.
Die Gemeinde managt den Wandel. Emblematisches und herausragendes Projekt ist das „Rathaus für Kultur“ als Knotenpunkt des vielfältigen Kulturschaffens: Ateliers und Proberäume, eine Residenz für neue Kunst und die Rathaus-Stube bieten Bühnen für regionale und internationale Kulturschaffende. Die Gemeinde hat dieses ehemalige Verwaltungsgebäude einem Verein zur Nutzung übergeben, während die Verwaltung selbst in das gegenüber liegende, leerstehende ehemalige Bank-Gebäude umgezogen ist, das sie erworben hat und über die anteilige Bürovermietung finanziert.Im Dachgeschoss des ehemaligen Bankgebäudes hat die Gemeinde 2017 ein Familienzentrum eingerichtet, das als Raum für Begegnung, Integration, Frühförderung, Prävention und Elternbildung fungiert. Es schlägt Brücken, hilft weiter und ist offen für alle. Neben dem Verein „Familienzentrum Lichtensteig“, der das Projekt umgesetzt hat, haben die Mütter- und Väterberatung Toggenburg, die Gemeinde, der Kanton und Freiwillige an der Planung mitgewirkt.
Ein Rückschlag war zwar die Schließung der Migros Klubschule als Folge der Pandemie. Der Wandel geht weiter und die Gemeinde lebt damit und gestaltet ihn wie so häufig in der Vergangenheit. Im aufgelassenen Polizeigebäude werden Naturseifen produziert, in der ehemaligen Post ist ein Coworking-Space entstanden und in einem klassischen Einzelhandelsgeschäft im Erdgeschoss wurde ein 24/7-Shop errichtet. Das aktuell größte Projekt ist die Zwischen- und Umnutzung der 8.000 Quadratmeter großen Nutzfläche in einer ehemaligen Fabrik, die von der Genossenschaft Stadtufer übernommen wurde und zu einem vielfältigen Lebensraum entwickelt wird.
Die Gemeinde ist städtisch geprägt. Die Landwirtschaft ist mit drei Vollerwerbsbetrieben wenig relevant. Das hangige Thurtal um Lichtensteig ist großteils bewaldet. Unterhalb der Altstadt hat die Gemeinde das Projekt „Mini.Rebberg“ der Bio-Weinbaugenossenschaft unterstützt. Die im Zentrum Lichtensteigs angesiedelte „ChääsWelt Toggenburg“ vermarktet über 200 im Toggenburg produzierte Käsesorten. Als Interessengemeinschaft bringt sie KäseherstellerInnen, MetzgerInnen, BäckerInnen, LandwirtInnen und GastronomInnen zusammen. Sie bündelt die kulinarische Vielfalt in touristischen Erlebnissen und macht sie im wahrsten Sinne des Wortes schmackhaft.
Lichtensteig ist Grünstadt-Gemeinde. Dieses schweizerische Label umfasst sämtliche Belange, die ein nachhaltiges Grünraummanagement fördern und so die Lebensqualität verbessern. Die Zertifizierung erfolgt auf Basis bereits erbrachter Leistungen, verlangt aber auch nach weiteren Maßnahmen, um ein nachhaltiges Grünflächenmanagement zu garantieren. In Lichtensteig wurden die Grünräume erfasst und hinsichtlich der Artenvielfalt bewertet. Die öffentlichen Flächen wurden mit standortgerechten Pflanzungen mit hoher Biodiversität neu gestaltet. Die Umsetzung ist unter Anleitung des Vereins „Blühendes Lichtensteig“ in ehrenamtlicher Arbeit erfolgt.
Seit 2014 ist die Siedlungsentwicklung gemäß dem neuen Schweizer Raumplanungsgesetz noch stärker nach innen zu richten. Für Lichtensteig heißt das unter anderem, dass bestehende Baulandreserven in eine Nicht-Bauzone überführt werden müssen, konkret eine Auszonung von 20.000 Quadratmetern Bauland. Der Gemeinderat stieß einen großangelegten Raumplanungs- und Innenentwicklungsprozess an und begegnete der Herausforderung proaktiv. Mit der Bevölkerung gemeinsam erarbeitete man eine richtungsweisende räumliche Vision und Strategie. Zeitgleich plante man mit LandeigentümerInnen drei große Überbauungen, um das übrig gebliebene Bauland zielführend einzusetzen. 100 Wohnungen entstanden und die Auszonungsflächen sind rechtlich gesichert. Die Gemeinde investiert auch in alternative Mobilität. Mit der Mini.Velostadt werden seit 2022 Fahrrad-Infrastrukturen ausgebaut, um den Rad-Anteil im Verkehr zu erhöhen. Das Projekt RegioHub+ soll den Bahnhof als Verknüpfungspunkt öffentlicher Verkehrsmittel attraktiver machen.
Lichtensteig unterstützt zahlreiche Initiativen zur Schaffung attraktiver Arbeitsplätze in der Stadt, etwa das „Macherzentrum“ mit dem Coworking-Space und Anlaufstelle für Klein- und JungunternehmerInnen, die Umnutzung von Fabriken, das Rathaus für Kultur und andere. Die Nahversorgung erfolgt wesentlich außerhalb der Gemeinde. Seit Prozessbeginn wurden aber zwei Läden zum Verkauf von Bio- und Regionalprodukten eröffnet.
Das Motto der Gemeindeentwickler „lokal starten – regional entwickeln“ wie auch die Identifikation der „Gemeinde als Ermöglicherin“ beschreibt die Haltung und Motivation der Gemeinde, Brücken zu schlagen, zwischen Stadt und Land, zwischen BürgerInnen und ExpertInnen, zwischen dem Lokalen und Regionalen, zwischen Gegenwart und Zukunft. Der Ort beweist, dass man die großen Herausforderungen der heutigen Zeit erfolgreich angehen kann und die Menschen das nicht nur mittragen, sondern aktiv angehen wollen.
Alle gemeinschaftlichen Projekte werden partizipativ durchgeführt. Verantwortung wird direkt an BürgerInnen und Vereine übertragen und oft mit Fremdkapital, etwa aus Stiftungen, finanziert. Die verschiedenen Netzwerke und Vereine, beispielsweise Zeitgut, Netzwerk 60+, die Arbeitsgruppe Spiel- und Begegnungsplätze, „Blühendes Lichtensteig – Grünstadtlabel“ und viele mehr binden die Menschen aktiv ein. Das partizipative Prinzip mit bürgerschaftlichem Engagement ist Teil des Selbstverständnisses. Die heutige Zeit fordert die Menschen und verunsichert sie nicht selten. Umso wichtiger ist daher die lokale Verwurzelung. Das gemeinschaftliche Vorgehen in Lichtensteig stärkt den Zusammenhalt im Ort, überwindet Gräben und bringt unterschiedlichste Menschen zusammen.
Evaluiert: 2022